Rezension: Die Möllner Briefe
Titel: Die Möllner Briefe
Regie und Drehbuch: Martina Priessner
Besetzung: Havva Arslan, İbrahim Arslan, Namik Arslan, Yeliz Burhan
Jahr: 2025 — Dokumentarfilm
Was für ein Gefühl muss es in dir auslösen, wenn du dein Leben lang dachtest, du seist mit deiner Trauer und Wut allein? Nur um zu erfahren, dass zahlreiche Mitbürger*innen hinter dir und deiner Familie standen? Und dass es deinen Geschwistern und Angehörigen ebenso erging wie dir?
Das ist eines meiner stärksten emotionalen Take-Aways aus dem Dokumentarfilm
Die Möllner Briefe.
Der Film von Martina Priessner begleitet İbrahim Arslan, politischen Bildner und Überlebender des rassistisch motivierten Brandanschlags von Mölln im November 1992. Mehr als 30 Jahre nach dem rechtsextremen Anschlag erhält er von der Stadt Mölln Solidaritätsbekundungen, die damals an die Betroffenen gerichtet waren, jedoch im Stadtarchiv verblieben waren.
Wir sehen, wie İbrahim Arslan sich mit Familienangehörigen und weiteren Überlebenden trifft, um über die damaligen Ereignisse und deren bis heute spürbare Folgen zu sprechen. Ebenso begleitet ihn der Film in Begegnungen mit dem amtierenden Bürgermeister von Mölln und dem Stadtarchivar, derselbe, der bereits damals die Briefe nach dem Anschlag vor über 30 Jahren archiviert hatte.
Ausgelöst wurde diese Auseinandersetzung durch eine Studentin, die im Stadtarchiv zufällig auf die Briefe gestoßen war. Dadurch kamen die betroffenen Familien in der Ratzeburger Straße und der Mühlenstraße erstmals in Kontakt mit den Solidaritätsbekundungen. Sie können diese endlich einsehen und teilweise überreicht bekommen. Doch dieser Prozess war von Hürden begleitet: Die Stadt Mölln beanspruchte, Briefe zu behalten, die vermeintlich an die Stadt adressiert waren, obwohl deutlich erkennbar war, dass sie an die Überlebenden und Familien gerichtet waren.
Besonders bewegend sind die Szenen, in denen İbrahim Arslan auf Menschen trifft, die ihm und seiner Familie damals geschrieben hatten. Es entstehen zutiefst emotionale Begegnungen, in denen die Briefverfasser*innen ihre damaligen Beweggründe teilen und ihre Verbundenheit dieses Mal nicht auf Papier, sondern von Angesicht zu Angesicht ausdrücken.
Ein weiterer zentraler Strang des Films ist die Beziehung zwischen İbrahim Arslan und seinen Geschwistern Namik und Yeliz, letztere nach der im Brandanschlag verstorbenen älteren Schwester benannt. Beide leiden bis heute unter den körperlichen und psychischen Folgen des Anschlags. Der Film zeigt, wie Namik Arslan Unterstützung sucht, um mit seinem Trauma umzugehen und gesundheitlich sich selbst zu umsorgen, um für seine Familie stark sein zu können.
Beim Sehen stellt sich mir eine Frage:
Wie erinnern, wenn das Erinnern selbst schmerzt?
İbrahim Arslan sagt im Film, er glaube nicht an die Theorie, dass das Sprechen über Traumata zu einer Re-Traumatisierung der Betroffenen führen könne. Doch später sehen wir, wie sein jüngerer Bruder Namik der gemeinsamen Mutter Havva rät, die Gegenstände der verstorbenen Schwester Yeliz loszulassen, um weniger zu leiden. Diese Objekte werden schließlich an das Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland (DOMiD) übergeben.
Diese familiären Szenen führen direkt zu einer weiteren zentralen Frage des Films:
Wer soll diese Erinnerungsarbeit eigentlich leisten?
Vielleicht tun wir es gemeinsam – durch ein solidarisches, kathartisches Weinen im Kinosaal. Aber versteht mich nicht falsch: Antirassistische Erinnerungs- und Bildungsarbeit aus betroffener Perspektive ist zentral, doch sie bedeutet auch eine Doppelbelastung für Menschen, die ohnehin von Rassismus betroffen sind.
Warum müssen wir mehr Arbeit leisten, wenn es doch die Mehrheitsgesellschaft ist, die sich bilden sollte?
Warum müssen wir unsere Betroffenheit “nutzen”, unseren Schmerz offenlegen, um dann auch noch erklären zu müssen, was dieser Schmerz bedeutet?
Und warum geschieht diese Arbeit meist schlecht bezahlt, oft ehrenamtlich, und immer unter dem Druck, dass mit der nächsten Wahlperiode auch die wenigen Fördergelder gestrichen werden könnten?
Warum braucht es immer wieder eine migrantisierte Person, die ihr Leid öffentlich macht, um auf menschlich-empathischer Ebene für strukturellen Wandel zu kämpfen?
Die Möllner Briefe spannt einen eindringlichen Bogen zwischen persönlicher Betroffenheit, gesellschaftlicher Scham und kollektiver Relevanz. Handgeschriebene Briefe, Kinderzeichnungen und die sensible musikalische Untermalung verleihen dem Film eine eindringliche, poetische Dimension.
Als das erste Bild einer Kinderzeichnung auf der Kinoleinwand auftauchte, ging ein leises Schluchzen durch den Saal. Alle bemühten sich, so leise wie möglich zu weinen, um den Sog des Films nicht zu unterbrechen. Immer wieder war ein tiefes Seufzen zu hören aus verschiedenen Ecken des Raumes und das Rascheln von Taschentuchpackungen.
Die Möllner Briefe ist ein zutiefst emotionaler Film, der seine Zuschauer*innen viszeral direkt im Innersten trifft.
Eine absolute Empfehlung für alle, die sich bereits mit postmigrantischer deutscher Erinnerungskultur beschäftigen, und auch für jene, die es dringend tun sollten.


