2 Fragen an Elizabeth Berman
Elizabeth Berman ist eine jüdische, US-amerikanische Aktivistin und MA-Studierende am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie ist Stipendiatin an der Rosa-Luxemburg-Stiftung und ist aktiv in verschiedenen linken und interreligiösen Gruppen in Berlin.
1. Wie erlebst Du das deutsche Gedenken an die Shoah?
„Als ich zum ersten Mal nach Deutschland kam beeindruckte mich die kollektive Bereitschaft Verantwortung für die Verbrechen der früheren Generationen zu übernehmen. Die deutsche Vergangenheitsbewältigung ist ein starkes Gegenmittel gegen nationalistische Mythen. Aber ich denke auch an Robert Musils Warnung, dass es nichts so unscheinbares gibt wie ein Denkmal. Ich persönlich habe immer das Gefühl gehabt, dass die Stolpersteine in ganz Berlin eine authentischere Erfahrung des Gedenkens bieten als das Denkmal für die ermordeten Juden in Europa. Mit den Stolpersteinen wird das Gedenken an die Opfer der Shoah zu einer unerwarteten und alltäglichen Erfahrung des Eindringens, statt zu einem einzigen Gedenktag oder einem einmaligen Ausflug zu einem Denkmal.
Angesichts der Erinnerungskultur fühle ich in bestimmten Räumen in Deutschland, dass mein Jüdischsein fetischisiert ist. Aber das gefährlichere Gefühl ist, ein Geist zu sein. Der dominante deutsche Diskurs über die Shoah lässt Jüdinnen* und Juden* oft nur als Opfer existieren. Es ist wichtig, dass das Sichtbarmachen der Opfer der Shoah nicht die lebenden Jüdinnen* und Juden* unsichtbar macht, die in Deutschland und weltweit weiter existieren und eine Meinungs- und Erfahrungs-vielfalt präsentieren, die sich nicht auf die Opferrolle reduzieren lässt. Es ist ebenso wichtig, dass Jüdinnen* und Juden* nicht instrumentalisiert werden, um die Unterdrückung anderer zu rechtfertigen.“
2. Wie hängen Empowerment und Erinnerung für Dich zusammen?
Die Erinnerung ist ein notwendiges Werkzeug für Empowerment. Für mich bedeutet das Erinnern an historische Gräueltaten, der Vergangenheit zu erlauben, in die Gegenwart einzudringen und an die Gewalttaten erinnert zu werden, die immer noch gegen als „anders“ bezeichnete Subjekte in der heutigen Gesellschaft verübt werden. Aus diesem Grund muss der Erinnerungs-diskurs immer auf den aktuellen Kontext eingehen. Wie kann Erinnerung unsere Aufmerksamkeit auf die aktuelle deutsche Grenzpolitik, islamfeindliche Diskurse und Waffenexporte lenken und wie kann sie Solidarität zwischen verschiedenen Gruppen aufbauen? Wenn die Erinnerung jedoch instrumentalisiert wird, um eine Distanz zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart einer Nation zu schaffen, verschwindet das Potenzial für die Ermächtigung. Erinnerung ist am produktivsten, wenn sie dem folgt, was Michael Rothberg als „multidirektionales Gedächtnis“ bezeichnet hat. Das Gedenken muss für gegenwärtige und zukünftige Gewalttätigkeiten Rechenschaft ablegen und Rassismus nicht als Ereignis, sondern als eine Struktur betrachten. Schließlich ist der Ausspruch „Nie wieder“ nicht nur für Jüdinnen* und Juden* gedacht!
Im Gespräch mit Ozan Zakariya Keskinkılıç,
Ozan Zakariya Keskinkılıç ist Koordinator der Salaam Schalom Initiative, Politikwissenschaftler und Lehrbeauftragter an der Alice Salomon Hochschule Berlin sowie Vorstandsmitglied der neuen deutschen Organisationen. Er lehrt und forscht u.a. zu (antimuslimischem) Rassismus, Antisemitismus, jüdisch-muslimischen Beziehungen sowie Erinnerung und Empowerment.
„Erinnerung ist immer ein umkämpfter Schauplatz. Auch das Gedenken an die Opfer der Schoah und des Porajmos, also der nationalsozialistischen Genozide an Jüdinnen* und Juden* sowie an Sint*izza und Rom*nja, ist nichts natürlich gegebenes, schon gar nicht selbstverständlich. Bis heute wird geleugnet und verharmlost, aber auch für ein deutsches Selbstbild vereinnahmt und instrumentalisiert. In seinem Manifest zur Desintegration kritisiert zum Beispiel Max Czollek die Regeln des Gedächtnistheaters – ein Begriff, der auf den kanadisch-deutschen Wissenschaftler Y. Michal Bodemann zurückgeht. Die „Judenrolle“, wie Czollek schreibt, blende jüdische Vielfalt aus und mache unsichtbar, dass auch sowjetische Juden Auschwitz befreit haben. Es geht in anderen Worten um Selbstermächtigung und Agency. Das sind Fragen, die sich insgesamt verschiedene marginalisierte Gruppen in Deutschland stellen und so über die Auseinandersetzung mit ihren verdrängten Geschichten und ihrer Bedeutung für die Gegenwart zueinander finden können. Auch die Sint*izza und Rom*nja Community hat jahrelang für die Anerkennung ihrer Verfolgungsgeschichte gekämpft und sich zur Wehr gesetzt.
Ich denke, Erinnerung bietet Chancen für Allianzen und Solidarität unter Menschen verschiedener Gewalt- und Ausgrenzungserfahrungen, selbst wenn man nicht das gleiche erlebt hat. Das bedeutet, sich in Beziehung zueinander zu setzen, die eigene Erfahrung mit der anderer zusammen zu denken, sich gegenseitig zu sehen und zu unterstützen. Da gibt es noch viel Potential für Veränderung und Empowerment.“