Deutschland im Herbst: Erinnern heißt Verändern!

Der Satz „Erinnern heißt verändern“ hallt durch die Netzwerke, in denen wir uns zusammenfinden. Es ist ein Aufruf zu einer neu gedachten Erinnerungskultur, einer Alternative, die den Umgang der deutschen Gesellschaft mit einer langen und schmerzhaften Geschichte von Gewalt gegen marginalisierte Gemeinschaften in Frage stellt.

in Deutsch & Englisch

„wieder und wieder
  
menschenknochen
  
von juden und schwarzen und
  
kranken und schwachen von
  
sinti und roma und
  
polen von lesben und
  
schwulen von und von
  
und von und von
  
und und  
erst einige dann viele“  

— May Ayim, „Deutschland im Herbst“ 

[deutsch]

Mit diesen ausdrucksstarken Zeilen erinnert uns die Dichterin May Ayim daran, dass das Leid und die Unterdrückung marginalisierter Gruppen eng miteinander verknüpft sind und eine fast deckungsgleiche Geschichte von Gewalt erzählen. Wir müssen diesen verhängnisvollen Status Quo der selektiven Wahrnehmung in Deutschland zum Anlass nehmen, staatlich vorgegebene Gedenkpraktiken zu hinterfragen und zu korrigieren, da sie allzu oft Erzählungen von Rassismus, Ausgrenzung und Gewalt übersehen oder bewusst separieren.  

 Von der Initiative „19. Februar Hanau“ bis zum „Bündnis Gedenken an das Pogrom: Lichtenhagen 1992“ hat sich in den letzten Jahren eine gemeinsame, politische Forderung herauskristallisiert und wird immer wieder bekräftigt: Erinnerung sollte nicht nur als Aufzeichnung der Vergangenheit dienen, sondern als Antrieb für Veränderung. Wahres Gedenken bedeutet, sich für eine tiefgreifende und dauerhafte Veränderung der sozialen und politischen Bedingungen einzusetzen, die jene Gewalt ursprünglich ermöglicht haben. Der Satz „Erinnern heißt verändern“ hallt durch die Netzwerke, in denen wir uns zusammenfinden. Es ist ein Aufruf zu einer neu gedachten Erinnerungskultur, einer Alternative, die den Umgang der deutschen Gesellschaft mit einer langen und schmerzhaften Geschichte von Gewalt gegen marginalisierte Gemeinschaften in Frage stellt.  

1. Eine Kultur multidirektionaler Erinnerung aufbauen  

 Deutschlands Gedenkkultur wird stark von staatlichen Institutionen geprägt und oft von selektiven Narrativen bestimmt, die breitere systemische Kritiken vermeiden. Antirassistische Organisationen fordern stattdessen eine multidirektionale Erinnerung, ein Begriff, der vom Wissenschaftler Michael Rothberg1 geprägt wurde, um hierarchische oder konkurrierende Opfernarrative zu überwinden. Multidirektionale Erinnerung fördert das Verständnis von Verbindungen zwischen verschiedenen Gewalterfahrungen, von der Shoah bis hin zu kolonialen Gräueltaten, und erkennt das Leid verschiedener Gruppen als miteinander verflochten an und betrachtet es nicht isoliert.  

2. Ablehnung von verflochtenen Historien zeigt zutiefst verwurzelten, anhaltenden Rassismus  

 Die Berliner Professorin Iman Attia2 führt den Begriff „Deckerinnerung“ ein, der beschreibt, wie bestimmte dominante Erinnerungen, wie die an den Holocaust, andere traumatische Geschichten „überdecken“ können, wie etwa koloniale Gewalt und die Versklavung afrikanischer Menschen. In Deutschland, so argumentiert sie, müsse die Fokussierung auf die Erinnerung an den Holocaust zentral bleiben, jedoch solle das nicht auf Kosten des Erinnerns an Kolonialismus und dessen tiefgreifende Auswirkungen auf nicht-weiße Gemeinschaften geschehen. Attia schlägt vor, dass das Anerkennen der Verflechtungen dieser Geschichten eine Gedenkkultur fördern könnte, die nicht nur eine Art von Opferrolle würdigt, sondern vielmehr das Erbe von Rassismus und Unterdrückung, das mehreren historischen Traumata zugrunde liegt, umfassend begreift.  

 Die Weigerung, die untrennbaren Verbindungen zwischen der nationalsozialistischen Vergangenheit und der kolonialen Gewalt Deutschlands anzuerkennen, zeigt ein anhaltendes Zögern, sich mit dem Vermächtnis des Rassismus auseinanderzusetzen. Die Anerkennung dieser miteinander verflochtenen Geschichten bedeutet zu verstehen, dass Diskriminierung und Gewalt gegenüber marginalisierten Gemeinschaften heute in historischen Unterdrückungssystemen verwurzelt sind. Die Schrecken des Holocaust mit der kolonialen Gewalt in Afrika und gegen Menschen des Globalen Südens in Verbindung zu bringen, verdeutlicht, wie beide Formen der Unterdrückung in der Entmenschlichung und rassistischen Hierarchie wurzeln, die von europäischen Mächten, darunter Deutschland, jahrhundertelang aufrechterhalten wurden.  

3. Mehr Zusammenarbeit, weniger Spaltung: Solidarität über Gemeinschaften hinweg aufbauen  

 Wie die Historikerin Fatima El-Tayeb3 erklärt, wird das kollektive europäische Gedächtnis von einem Wechselspiel aus selektiver Erinnerung und Amnesie geprägt; das Erinnern ausgelöschter Historien wird so zu einem Akt des Widerstandes, der die dominanten Narrative in Frage stellt und auf die Anerkennung der miteinander verflochtenen kolonialen und faschistischen Vergangenheit als Grundlage für Solidarität drängt.  

Wahre Veränderung erfordert die Solidarität verschiedenster Gemeinschaften und Bewegungen. Indem Gruppen durch Bündnisse und Initiativen zusammenkommen, können sie einschränkende Narrative durchbrechen und marginalisierte Stimmen verstärken. Dies bedeutet, die Gedenkkultur von einem passiven Akt des Erinnerns zu einer dynamischen Kraft für sozialen Wandel zu machen.  

 May Ayims Worte fangen die Vielfalt der Stimmen ein, die historisch unterdrückt wurden, und erinnern uns daran, dass wir uns dieser Geschichten nicht isoliert voneinander erinnern sollten. Wir müssen weiterhin Allianzen aufbauen, die die Verflechtung dieser Kämpfe würdigen und anerkennen, dass Erinnern auch Verpflichtung zum Wandel bedeutet.  

 Nur durch eine geteilte, inklusive Erinnerung können wir hoffen, eine gerechtere Gesellschaft aufzubauen, die nicht nur vergangenes Unrecht anerkennt, sondern aktiv daran arbeitet, die Strukturen von Rassismus und Unterdrückung, die bis heute bestehen, vollends und für immer zu beseitigen.  

  

[1] Rothberg, M. Multidirectional Memory: Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization. Stanford University Press, 2009.  

[2] Attia, I. “Deckerinnerung: Über das Überdecken von Erinnerungen an koloniale Gewalt.” In Die »westliche Kultur« und ihr Anderes: Zur Dekonstruktion von Orientalismus und antimuslimischem Rassismus, Transcript Verlag, 2009.  

[3] El-Tayeb, F. Anders Europäisch: Queer und Rassismus in der europäischen Moderne. Transcript Verlag, 2020.  

[english, original]

With these powerful lines, poet May Ayim reminds us that the suffering and oppression of marginalized groups are intertwined, reflecting interconnected histories of violence. Today, this shared history serves as a rallying cry across Germany to challenge selective, state-led memorial practices that too often overlook or compartmentalize narratives of racism, exclusion, and violence.  

 From the Initiative 19. Februar Hanau to the Bündnis Gedenken an das Pogrom: Lichtenhagen 1992, in recent years a demand has emerged and continuously reiterated: that memory should serve not only as a record of the past but as a force for change, and that true commemoration entails building towards effective and enduring transformation of the social and political conditions that enabled violence in the first place. The phrase “erinnern heißt verändern” (rememberance means change) echoes across the networks we have been forming. It’s a call for a reimagined Erinnerungskultur — an alternative, subverting the way German society addresses a long and painful history of violence against marginalized communities.   

1. Building a Culture of Multidirectional Memory  

 Germany’s culture of remembrance has largely been shaped by state institutions, often characterized by selective narratives that sidestep broader systemic critiques. Anti-racist organizations are challenging this approach by calling for multidirectional memory, a term coined by scholar Michael Rothberg1, to resist hierarchical or competing victim narratives. Multidirectional memory encourages seeing connections between different histories of violence, from the Holocaust to colonial atrocities, recognizing that the suffering of various groups is interconnected rather than isolated.  

2. Resistance to Interwoven Histories Reflects Deep-Seated and Persisting Racism  

 Professor Iman Attia2 introduces the notion of “Deckerinnerung”, which describes how certain dominant memories, like that of the Holocaust, can overshadow or “cover” other traumatic histories, such as colonial violence and the enslavement of African people. In Germany, she argues, this focus on Holocaust memory is crucial and must remain central, but it should not come at the expense of remembering colonialism and its profound impact on non-white communities. Attia suggests that by acknowledging the interconnectedness of these histories, we can cultivate a memory culture that doesn’t just commemorate one type of victimization but instead fosters a comprehensive understanding of the legacies of racism and oppression that underpin multiple historical traumas.  

 The reluctance to acknowledge the inextricable continuities between Germany’s Fascist past and colonial violence reveals a persistent refusal to confront the ongoing legacy of racism. Recognizing these histories as interconnected means understanding that the discrimination and violence faced by marginalized communities today are rooted in historical systems of oppression. Connecting the horrors of the Holocaust with colonial violence across Africa and against peoples of the Global Majority everywhere illuminates how both forms of oppression share roots in dehumanization and racial hierarchy perpetuated by European powers, including Germany.  

3. Mehr Zusammenarbeit, weniger Spaltung: Building Solidarity Across Communities  

 As historian Fatima El-Tayeb3 explains, since collective European memory is shaped by a dialectic of selective memory and amnesia, remembering erased histories becomes an act of resistance, challenging the dominant narratives and pushing for acknowledgment of intertwined colonial and fascist pasts as a basis for solidarity.  

 True change requires solidarity across diverse communities and movements. By coming together through Bündnisse and Initiativen, groups can push back against restrictive narratives and amplify marginalized voices. This involves actively working to shift remembrance culture from a passive act of acknowledgment to a dynamic force for social transformation.  

 May Ayim’s words capture the multiplicity of voices that have been historically oppressed, and they also remind us that these histories should not be remembered in isolation. We must continue to build alliances that honor the interconnectedness of these struggles and recognize that to remember, we must commit to change.   

 Only through a shared, inclusive remembrance can we hope to build a more just society, one that doesn’t merely acknowledge past wrongs but actively works to eliminate the structures of racism and oppression that continue today once and for all!  

[1] Rothberg, M. Multidirectional Memory: Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization. Stanford University Press, 2009.  

[2] Attia, I. “Deckerinnerung: Über das Überdecken von Erinnerungen an koloniale Gewalt.” In Die »westliche Kultur« und ihr Anderes: Zur Dekonstruktion von Orientalismus und antimuslimischem Rassismus, Transcript Verlag, 2009.  

[3] El-Tayeb, F. Anders Europäisch: Queer und Rassismus in der europäischen Moderne. Transcript Verlag, 2020.